Verehrte Gemeinde,
Pfingsten 2009 kam er heraus, der Ratgeber
Kieferorthopädie der Stiftung Warentest (Deutschland / Österreich), und ich muss hier mal meine Meinung dazu loswerden:
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Titelbild: Kind mit fester Spange, über der viel Zahnfleisch entblößt ist (unnatürliches „gummy smile“), während die kleinen Zähne durch das massive „Baugerüst“ am Weiterwachsen gehindert zu werden scheinen.
Vormals war Kieferorthopädie ein Kapitel der Warentest Zähne-Bücher, wovon ich neulich ältere Ausgaben betrachten konnte: 1999 waren sogar noch die gesunden Bimler-Spangen im Bild, die heutzutage eine Rarität sind. 2003 stattdessen ein Fall „Lars“ einer beizeiten begonnenen und dennoch 5 Jahre dauernden Bracket-Behandlung, für die überdies 2 gesunde Zähne unnötig geopfert wurden (auf bewährte Bisslagekorrektur wurde wohl verzichtet). In der 2005er Version waren dann viele sanfte Methoden durch harte ersetzt.
In der neuen Lang-Version haben besondere patientenschonende Methoden wie Fränkel, Crozat und Korrekturschienen zwar wieder Platz. Die Rückschubdoppelplatte jedoch nicht, sondern stattdessen z.B. die Gesichtsmaske an fester Spange, die im Alter von 7 bis 9 Jahren am wirksamsten sei
(S. 71)!
Es gibt auch ein Kapitel zum Für und Wider der ganzheitlichen Kieferorthopädie. Einen Hinweis auf verlockenden Ganzheitlich-Etikettenschwindel vermisste ich jedoch.
Überhaupt ist das Buch mit viel Vorsicht zu lesen, denn, der Reihe nach:
S. 38: Zahnarzt überweist 4-Jährige wegen Vorbiss zum Kieferorthopäden. Diese „setzte bei ihr im Oberkiefer eine feste Klammer ein, um den Kiefer zu weiten.“ Zweifellos eine Gaumennahtsprengung (GNE), denn die Mutter musste sie täglich selbst nachstellen. Dabei hat das kleine Mädchen jedesmal vor Schmerz geschrien, so dass die Mutter eine Zweitmeinung einholte. Aber auch dieser Zahnarzt fand die brachiale Prozedur in Ordnung. Viele Fach-Kieferorthopäden mögen es nicht, wenn sich Allgemein-Zahnärzte in ihr Tun einmischen, oder gar die leichten oder frühen Fälle selbst behandeln. So wurde hier nur bemängelt, dass die Kieferorthopädin nicht gesagt hat, die Schmerzen würden nach 2 Wochen aufhören (wenn die Gaumennaht zerrissen ist).
Kein Wort informierte lesende Eltern an dieser Stelle darüber, dass z.B. herausnehmbare Dehnplatten schmerzlos und in diesem Alter ebenfalls zügig wirken. So werden hier verrohte Behandlungsformen von Kleinkindern salonfähig gemacht, die eigentlich Körperverletzung sind. Zuvor waren mir „nur“ einzelne Praxen-Seiten in D und A bekannt, die sich eben damit brüsten.
S. 53 seitengroß ein Kind mit Brackets, das noch alle Milch-Backenzähne hat (das habe ich neulich zum ersten Mal am lebenden Objekt gesichtet)! Frühere Ausgaben zeigten lediglich Kinder mit Brackets, denen die Eckzähne noch fehlten. Auf S. 61 dann unter
Brackets für Milchzahnträger beschrieben, und anderswo noch am Beispiel eines 7-Jährigen: manchen Kindern „müssten“ schon im frühen Wechselgebiss Brackets eingebaut werden. Die Milch-Seitenzähne werden dabei ausgespart, um ihre Nachfolger meist später mit einer festen Spange zu versehen.
Wie ist nun dieser Vormarsch zu deuten? Vermutlich, damit Praxen, die (nach US-amerikanischem Vorbild?) Platten oder Crozat völlig auslisten, und damit vielleicht eine Laborkraft einsparen, dadurch nicht jene Patienten einbüßen, die noch Milchzähne haben?
S. 106 bestätigt dann, dass die invasiven Minischrauben im Knochen als Zusatz zur festen Spange nun auch für Kinder und Jugendliche verbreitet werden, „wenn umfangreiche Zahnbewegungen geplant sind und z.B. eine Lücke geschlossen werden soll.“ Paroli: mein Nichtanlagen-Fallkapitel mit 4 Fällen aus 3 Quellen:
www.sanfte-zahnklammern.de/fallbeisp/ni ... htanl.html
Ja, die Zahnbewegungen! Im Ganzheitlichen-Kapitel des Buches steht zwar, dass man auch mehr mit dem Wachstum arbeiten kann statt mit äußeren Kräften, die, wenn sie groß sein müssen, sonst von Außenspangen kommen oder eben von solchen Schrauben im Knochen.
Ich weise darauf hin, dass es in Europa früher schulmedizinische Kieferorthopädie war, die intensiv das Wachstum genutzt hat. Außenspangen waren damals unüblich, Erwachsenen-Kieferorthopädie aber auch. Bracket-Karies und aufgelöste Zahnwurzeln, wie sie im hinteren Teil des Buches beschrieben sind, machten damals noch kein Problem.
Auf S. 112 heißt es dann noch, „Wenn sich absehen lässt, dass ein Kind auf lange Sicht nicht um eine Operation herumkommt,“ die Frühbehandlung zu unterlassen. Gemeint sind hier also keine Spätfälle, sondern als Beispiel: 10 mm Vorbiss. Aber welches Kind kommt mit 10 mm Vorbiss zur Welt? Diese Auffassung bereitet dem Missbrauch durch Versäumnis den Weg, auch wenn die Qualen und Risiken von Kieferoperationen dann durchaus beschrieben werden.
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Ra(s)tlose Grüße,
hordeotech