Liebe Leser,
das Kiefergelenk der Säugetiere ist ein komplexes Gelenk mit einer Knorpeleinlage.
Da komplexe Dinge anfälliger sind als einfache, macht es manchen Leuten Beschwerden, und wenn denen zahnärztliche oder kieferorthopädische Maßnahmen vorausgingen, wird schon mal heiß debattiert, ob die Missachtung der Spee´schen Kurve ein ärztlicher Fehler sei.
Vielleicht denken Ossis bei Spee erstmal an Waschpulver, aber
vor 120 Jahren veröffentlichte
Ferdinand Graf von Spee seine These, dass in der Seitenansicht des Schädels die Kauebene der Mahlzähne und das Kiefergelenk auf einer Kreisbahn liegen – nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Pferd, bei Wiederkäuern wie z.B. dem Hirsch und bei manchen Affenarten.
Eine aktuelle Studie (Quelle s.u.) bestätigte dies für diese Tierarten im Wesentlichen, aber fand bei Hunden, von denen es ja die unterschiedlichsten Züchtungen gibt, keine Präferenz zu flachen oder gekrümmten Kauebenen. Bei Wolf und Fuchs ist die Krümmung allerdings nachweisbar. Hingegen lässt sich bei Tierarten, die hauptsächlich seitwärts kauen, wie Hase, Kamel oder Känguru, keine Spee´sche Kurve zeigen, und bei Fledermäusen verläuft sie umgekehrt gekrümmt.
Was den Mittelpunkt dieses Kreises angeht, so liegt er bei vielen Tieren außerhalb des Schädels, während Spee ihn beim Menschen im Mittelpunkt der Augenhöhle platzierte.
Da sich dies als nicht haltbar erwies, um Zahnersatz funktionsgerecht zu gestalten, und da ein Kreis zu ideal rund ist, um wahr zu sein,
wird heute, anders als im ursprünglichen Sinne, eine gekrümmte Kauebene verallgemeinert als Spee´schen Kurve bezeichnet, In diese werden nicht nur die Mahlzähne, sondern auch die kleinen Backenzähne (Prämolaren) einbezogen. Denn schließlich haben viele Menschen in den Industrieländern keine funktionierenden Weisheitszähne, und somit nur 2 Mahlzähne je Quadrant, und nur 2 Zähne lassen reichlich Spielraum, um im routinemäßigen Seiten-Röntgenbild der kieferorthopädischen Diagnostik einen Kreisbogen oder eine Gerade, je nach Gutdünken, hindurch zu legen.
So wurde die Spee-Kurve von erfahrenen Praktikern schon mal als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Zahnärzte bezeichnet. Zum Vergleich, die Diagnose „Chronische Blinddarmentzündung“ gibt es nur in Deutschland und Österreich. In anderen Ländern ist es entweder akute Blinddarmentzündung, oder eben etwas anderes.
Zwar haben manche Leute ausgeprägte „Schaukelstuhlgebisse“, während bei anderen alle Zähne in einer Ebene liegen, aber warum sollte das eine besser als das andere kauen können, oder anfälliger für Beschwerden sein?
Nichtsdestotrotz wirkt die heutzutage verbreitete Norm-Form-Kieferorthopädie auf eine Abflachung solcher Krümmungen hin. Erzwingt sie dabei einen für das Individuum unnatürlichen Zustand, so kann dies Beschwerden erzeugen. Diese Gefahr droht jedoch kaum bei der traditionellen europäischen Kieferorthopädie, die die natürliche Entfaltung eines gesunden und in sich stabilen Kauorgans unterstützt - ob man dies heutzutage nun „ganzheitlich“ nennt oder nicht.
In dem Sinne
„Amateure bauten die Arche, Spezialisten bauten die Titanic“ will diese Behandlungsform gemütliche Archen bauen, während vollmundige Werber für verbesserte feste Spangen die Titanic verbessern wollen, und Ganzheitlich-Etikettenschwindler nicht mehr selten sind.
A propos Werbung, kam von einer meiner besten Adressen ein gewichtiger Einwand:
Wenn schicke, gepflegte, wohlhabend aussehende Menschen Werbung für ihre falschen Zähne vom Allerfeinsten machen, sollte man sich dann nicht fragen, warum sie vorher ihr eigenes Zahnmaterial haben vergammeln lassen? Oder wer ihnen eingeredet hat, dass ihre natürlichen Zähne nicht schön genug wären?
Ich danke Dr. Barbara Bimler (
www.bimler.com) für die Zusendung ihres Artikels „Die Spee´sche Kurve bei einigen Säugetieren“ (Jb. nass. Ver. Naturkde. 128 (2007) 105-17), der mir als Quelle diente.
hordeotech