Die Entwicklung der Kieferorthopädie: wie sind wir soweit gekommen?
DIE
FRÜHZEIT in Kürze: die Anfänge der Zahnregulierung
erfolgten mit festen Spangen aus Edelmetall. Ihre
Systematik wurde von Angle (England) Ende des 19. Jahrhunderts
vorangetrieben.
Das früheste System herausnehmbarer
Spangen, mit einer frühen Form von Halteklammern, stammt von
Crozat (USA). Diese hygienischen, leichten Drahtspangen ohne Plastik
werden noch heute von manchen ganzheitlichen Kieferorthopäden
verwendet, neben Bionatoren.
DIE ENTWICKLUNG IN EUROPA:
Erst
Plastik-Materialien ermöglichten die Entwicklung
und Verbreitung herausnehmbarer Spangen im großen Stil. Zuvor
wurde als billige Behandlung von Engständen bei Kindern
Zähneziehen empfohlen (Serienextraktion nach Kjellgren). Einige
frühe Formen bestanden aus hartem Naturgummi. In Europa waren
billige Methoden durch die wirtschaftliche Knappheit vor, während
und nach dem 2. Weltkrieg gefragt.
Die Anfänge dieser
Volks-Zahnregulierung realisierte
C.F. Nord (Holland) ab 1930 mit der Entwicklung der aktiven
Platten. Sie waren betriebssicherer und billiger als die
damaligen festen Spangen.
Arthur Martin Schwarz (Österreich)
entwickelte diese Platten zu einer großen Vielfalt weiter.
Heute gibt es vielfältige Halteklammern, Feder- und
Schraub-Elemente dafür, sowie Draht in allen Stärken, auch
nickelfrei, buntes Plastik, miniaturisierte Schrauben und
hart-weich-Verbund, z.B. mit Regulierungs-Silikon (ursprünglich
mit Prothesen-Unterfütterungsmaterial).
Weniger
offensichtlich als die Wirkung der aktiven Platten ist für
den Laien die Wirkung solcher Spangen, die in einem Stück beide
Kiefer umfassen. In ihrer gängigsten Form sind die
Seitenzahnreihen beider Kiefer darin eingeprägt.
Solche
Spangen sollen das Kieferwachstum beeinflussen, um Fehlwuchs wieder
richtig wachsen zu lassen. Dieses Konzept heißt
Funktionskieferorthopädie (FKO) und wurde von Andresen
(Dänemark) und Häupl (Österreich) Mitte der 20er Jahre
in Oslo entwickelt. Die entsprechende Zahnspange wurde Aktivator
genannt. In dezenterer, dünnerer Bauform leistet sie auch heute
noch gute Dienste, und stört dabei anders als frühere
Exemplare kaum beim Sprechen.
Erst Häupl hat den Begriff
Kieferorthopädie geprägt. Auf Englisch gab
es bloß orthodontics, also den Teil, der sich auf
das Verschieben von Zähnen bezieht.
Die Vielfalt der
Ein-Stück-, Doppelplatten- oder skelettierten Zahnspangen, die
fortan aus dem Aktivator oder aus dem generellen Konzept der
Beeinflussung des Wachstums entwickelt wurde, ist in den Kapiteln
Zahnspangen-Galerie B und Weitere Info beschrieben.
Aber
auch Dehnschrauben in aktiven Platten funktionieren durch
Anreizung des Kieferwachstums.
DIE
ENTWICKLUNG IN DEN USA:
Dort
waren herausnehmbare Zahnspangen unüblich. Sei es mangels
Zahntechnikern für den Spangenbau, denn die
Handwerker-Ausbildung ist dort längst nicht wie in Europa, und
auch Zahnersatz ist im Durchschnitt grobschlächtiger. Oder sei
es, dass die Anwendung von Zwang dort verbreiteter ist.
Die alten,
auf Angle zurückgehenden Multiband-Spangen, bei
denen jeder Zahn mit einem Stahlband ummantelt wurde, wurden zu
geklebten Multibracket-Spangen verbessert
(traintracks = Eisenbahnschienen), nachdem die nötige
Klebetechnik entwickelt war. Die Brackets lassen sich schneller und
fast ohne Passform-Probleme einbauen.
Eine weitere Verbesserung
betraf die Federkraft der Drähte (Bögen) der
festen Spangen. Während die Kraft üblicherweise mit der
Auslenkung zunimmt, so dass Zähne, die weit aus der Reihe
stehen, mit schädlich hohen Kräften belastet würden,
gibt es Spezial-Legierungen wie z.B. Nickel-Titan, bei denen die
Rückstellkraft nicht durchweg mit der Auslenkung zunimmt,
sondern in einem begrenzten Bereich konstant bleibt. Dies war schon
lange bekannt, aber lange militärisches Geheimnis. Nun wird es
als Legierung aus der Raumfahrt verkauft, um die Gefahr
von Zahnwurzelschäden zu verringern. Drohende Schäden
machen sich jedoch in der Regel durch Schmerzen bemerkbar.
Wenn
Technik sicherer gemacht wird, wird in Folge riskanter damit
umgegangen. Egal, ob es sich um Autos, Ski-Ausrüstungen oder
feste Zahnspangen handelt. Wobei nur letztere nicht vom dem
ausgewählt werden, der anschließend ihre Risiken zu tragen
hat.
Die Zielgruppe wurde vervielfacht, obwohl durch die
Nickel-Titan-Drähte nur eines der vielen Risiken gesenkt wurde,
die festen Spangen eigen sind (siehe Kapitel Die harte
Wirklichkeit).
In den USA wurden Zahnregulierungen früher
erst im bleibenden Gebiss begonnen. Da dann eine Anreizung des
Kieferwachstums kaum noch möglich ist, wurden öfter als bei
uns für Zahnspangen gesunde bleibende Zähne
gezogen!
Später hat man wiederentdeckt, bzw. aus Europa
abgeguckt, dass die Nutzung der Wachstumsphase für die
Kieferorthopädie vorteilhaft ist. Jedoch entwickelte man, statt
auch entsprechende herausnehmbare Spangen zu übernehmen,
festsitzende (Fertig-)Teile dafür. Diesen Fortschritt
exportiert man mit Nachdruck, z.B. als bioprogressive
Behandlung, und verdrängt damit bewährte Zahnspangen-Arten
anderer Länder, die risikoärmer und wirtschaftlicher
heilen.
Dann galt eine 2-Phasen-Behandlung als
fortschrittlich. Dabei wird Kindern schon mit 6 10 Jahren,
wenn noch mehr oder weniger Milchzähne da sind, je nach
Situation in einer verletzenden Prozedur zur Kiefer-Verbreiterung die
Gaumennaht gesprengt (GNE, siehe extra Kapitel) oder eine hinderliche
Quadhelix eingebaut, oder in anderen Fällen eine Außenspange
(Headgear, Delaire-Maske) aufgezwungen.
Nach Abschluss des
Zahnwechsels wird dann als 2. Phase mehrjährig die übliche
Bracket-Spange eingebaut, in Fällen von Unterkiefer-Rücklage
zeitweise ergänzt durch ein hinderliches, ebenso fest
eingebautes Herbst-Scharnier oder ähnliche, flexiblere
Einbauten.
DIE KOLONISATION DER WELT DURCH DIE USA
erstreckt sich also auch auf das Gebiet der Zahnspangen.
In
Deutschland erfolgte die meiste Kieferorthopädie bis in die
70er/80er Jahre hinein im Westen und bis zur Vereinigung im Osten mit
herausnehmbaren Spangen bei Kindern. Erwachsenen-Kieferorthopädie
war weitgehend unbekannt.
Wo ich damals zur Schule ging (West),
wurde nur etwa eine(r) pro Klasse mit Festsitzenden malträtiert.
Oft noch die alten Multiband-Stahlgebisse, aber meist auf 1/2
1 Jahr begrenzt. Mehrere trugen auch zur Schule Platten oder
Aktivatoren, der größere Teil trug sie nachmittags
und nachts (das hing vom Behandler ab).
Die Sorgfalt der
deutschen Patienten im Umgang mit freiwilligen Spangen
ließ aber nach, als die Kassen sie für jeden bezahlten. In
dem Sinne, was nichts kostet, ist nicht viel wert, oder
elternseitig du trägst deine Spange, oder du behältst
schiefe Zähne.
Weil viele Behandlungen abgebrochen
wurden, bezahlten die Kassen dann nur noch abgeschlossene
Behandlungen voll. Das war Wasser auf die Mühle der Ex- und
Importeure der festsitzenden Techniken, d.h. der
Fertigteile und schematischen Methodiken, die weniger Nachdenken über
den Patienten erfordern. In Ländern, die kleiner sind oder
weniger Tradition mit herausnehmbaren Spangen haben, wie Österreich,
Frankreich, Italien und weniger industrialisierte Länder,
erfolgte die Kolonisation mit US-Methoden radikaler, da sie dort auf
weniger Bedenken der Ärzteschaft stieß. Allerdings sind
z.B. in Südamerika aktive Platten als erschwingliche
Volks-Kieferorthopädie noch in Gebrauch.
In Westdeutschland
lief die Ablösung der über 50 Jahre lang bewährten
Methoden in Salamitaktik etwa
so ab:
1. Feste Spangen
für Problemfälle, die mit Herausnehmbaren schwierig sind,
z.B. manche älteren Jugendlichen, und nur so lange wie nötig.
2.
Die Ergebnisse der herausnehmbaren Spangen, die jahrzehntelang
zufriedenstellten, galten nun als unzureichend für moderne
Ansprüche (wessen wohl?), so dass eine Feineinstellung
mit fester Spange für ungefähr 1 Jahr üblich wurde. Da
das Geschick mit den Herausnehmbaren folglich nachließ, ergab
sich dann als nächste Abwärts-Stufe:
3.
Herausnehmbare zur Platzbeschaffung (Dehnplatten) und zur
Kiefer-Korrektur (Doppeldecker), feste Spangen zur Zahnkorrektur,
routinemäßig für 2 Jahre, schwere Fälle auch
länger.
4. heute werden
Herausnehmbare selbst aus der Platzgewinnung verdrängt durch
Zähneziehen oder feste Einbauten unter dem Gaumen oder
Außenspangen (Headgear).
Doppeldecker zur Bisslage-Korrektur
werden teils durch Außenspangen verdrängt, besonders droht
Kindern mit Vorbiss (Progenie) selbst bei Frühbehandlung die
Gesichtsmaske (Delaire-Maske), und Jugendlichen mit Überbiss das
obengenannte Herbst-Scharnier.
Heutige
Fachzeitschriften und Fachkongresse befassen
sich zu mindestens 95% mit festen Spangen, einschließlich
der nochmals profitablen Verhütung oder Behandlung von deren
Kollateralschäden.
Hinter der Faszination der
Technik und des Geldes tritt die Beachtung der Ursachen für
die Zivilisationskrankheit Zahn- und Kiefer-Fehlstellungen zurück.
Wie andere einstmals schulmedizinische, z.B. nicht-operative Methoden
auch, wird sie in die Alternativmedizin abgedrängt. Bestimmte
herausnehmbare Spangen, v.a. der Bionator nach Balters, fanden bei
Kieferorthopäden, die sich ganzheitlich nennen und auf
die Ursachen Wert legen, eine ökologische Nische. Ganzheitlich
ist jedoch keine geschützte Bezeichnung. Unter diesem Etikett
behandeln manche so-wie-früher, aber viele haben ein reduziertes
Spangen-Sortiment und stattdessen Zusatzbehandlungen wie z.B.
hilfreiche gezielte Physiotherapie, aber auch allerlei Esoterisches.
Manche allgemein ganzheitlichen Zahnärzte bieten
kieferorthopädische Frühbehandlungen an.
Kompetente
Behandlung zu patientenfreundlichen Preisen oder auf Kasse findet man
unter ganzheitlich ebenso wie Anbieter, deren Preislage
konventionellen Bracket-Behandlungen nicht nachsteht.
In einer
neuen Welle fallen Werber für verbesserte feste Spangen auch
in diese Refugien ein, um z.B. die Crozat-Technik zu verdrängen.
Hingegen verbreiten sich Innovationen bei herausnehmbaren Spangen,
die Kosten und Zeit sparen, ohne die Patienten mehr zu belasten, nur
langsam: z.B. Pro-Stab-Platten, Rückschubdoppelplatten oder
Hart-Weich-Verbund zur rationellen Zahnkorrektur und zur
Kaugummieffekt-Kieferorthopädie.
Außerdem bereichern manche konventionellen Kieferorthopäden mit ganzheitlich ihr Sortiment, was oft auf ganzheitlich light hinausläuft: nur für leichte Fälle, und für alle anderen harte Methoden. Z.B. wenn ein Bionator gegen Kreuzbiss nicht mehr ausreicht, nur noch Gaumennahtsprengung, kein Crozat, keine Dehnplatte (die bekam jene 10-Jährige dann anderswo). Wie Ökostrom vom Atomkraftwerk-Betrieber, oder wie das Euro-Bio-Sechseck im Vergleich zu den klassischen Verbands-Biosiegeln, für die ein Betrieb vollständig bio sein muss, oder gar nicht.
PREISGÜNSTIGERE
MEDIZINISCHE METHODEN SIND WENIGER PROFITABEL, vom Arzt
aus betrachtet! Die Kieferorthopädie
ist hier ein Abbild der Krise unseres ganzen Gesundheitsssytems.
Dessen Hauptfehler ist, dass es von Krankheit und nicht von
Gesundheit lebt. Also propagiert ein Netzwerk von Interessenverbänden
und Firmen, die auch die ärztliche Aus- und Weiterbildung
unterstützen, teure und riskante Mittel und Methoden, während
billige Möglichkeiten der Gesunderhaltung und Behandlung
kleingehalten werden. Der Markt für die
schweren Methoden wird von schweren Fällen
nach und nach auf leichtere ausgedehnt. Obwohl denen mit
natürlicheren, risikoärmeren und somit oft billigeren
Mitteln und Methoden besser geholfen wäre. Seien es nun
Pharmaka, konservative oder operative Behandlungen, oder
Zahnspangen.
Wenn die Kassen dann die Finanztöpfe deckeln,
werden Verteilungskämpfe auf
dem Rücken der hier oft noch minderjährigen Patienten
ausgetragen. Aus ihnen gilt es mehr
herauszupressen.
Nicht selten werden
Behandlungen in die Länge gezogen.
Als kleine
Lösungen, deren Kosten und Aufwand überschaubar
bleiben, werden Erwachsenen mit leichten Fehlstellungen diverse
Korrektur-Schienen angeboten. Für Kinder mit leichteren
Fehlstellungen, für die die Kassen keine Behandlung mehr zahlen,
sind kleine Lösungen rar.
Die Einstufung der Fehlstellungen erfolgt
dabei nach festgelegten Regeln und zieht manche Verschleppung bis zur
Verschlimmerung nach sich, so dass eine anschließende
Behandlung aufwändiger und belastender wird, als wenn man sie
zeitig begonnen hätte.
Nur wenige Anbieter von
selbst zu zahlender früh, einfach und
billig-Kieferorthopädie ermöglichen
hier eine Flucht nach vorn, von den Verteilungskämpfen
weg.
Letztes
Update dieses Teils: 07.01.2009
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