GANZHEITLICHE KIEFERORTHOPÄDIE, INTERNATIONAL-
holistic orofacial orthopedics around the world - |
Version 2.0 vom 01.01.2020
Ganzheitliche
Kieferorthopädie grenzt sich zur „mechanischen“ Kieferorthopädie
ab. Diese wird auch Orthodontie genannt, sofern sie sich mit
Zahnkorrekturen, aber nicht mit Kieferkorrekturen befasst, und
betrachtet die Fehlstellungen eher isoliert und behandelt sie mit
„fremden“ Kräften. Dagegen sucht die ganzheitliche
Kieferorthopädie die Ursachen im Zusammenhang mit dem ganzen
Menschen und strebt an, möglichst schon im Kindesalter die
Fehlstellungen durch Unterstützung aller natürlichen Funktionen zur
gesunden Gebissentwicklung zu normalisieren.
Diese sollen ein
naturgesundes Kauorgan formen, bei dem Zahnstellung und Bisslage in
einem stabilen Gleichgewicht stehen, das keiner weiteren Retention
bedarf, und in dem nach Möglichkeit alle 32 Zähne einschließlich
der Weisheitszähne ihren Platz finden.
Ganzheitliche Kieferorthopädie hat dadurch eine Schnittmenge mit der Funktionskieferorthopädie, die gleichermaßen nationale Besonderheiten hat. Sie nutzt jedoch zu größerem Anteil auch nichtapparative Behandlung, wie myofunktionelles Training, Logopädie, Physiotherapie oder Osteopathie.
Zwischen ganzheitlicher
Kieferorthopädie einerseits und Multibracket- oder
Aligner-Orthodontie andererseits wäre die in Europa und anderswo
jahrzehntelang gebräuchliche „Wachstumslenkung“ von Zahnreihen
und Okklusion mit aktiven Platten und Aktivatoren zu sehen. Im Sinne
wie andere Orthopädie im Kindesalter wurde auch sie im frühen oder
späten Wechselgebiss-Stadium begonnen.
Die Retentionsphase
begrenzte sich dabei auf einige Jahre, in denen die letztgenutzten
Zahnspangen oder leichtere Retentionsgeräte immer weniger getragen
wurden (Ausschleichen).
Anders als die zunächst in der
Erwachsenenbehandlung eingeführte und nun zusehends um sich
greifende „lebenslängliche Retention“ mit Kleberetainern
(Dauerretainern) hinter den Frontzähnen, die deren konkave, dünne
Rückseiten einer fortwährenden Kariesgefahr aussetzt.
OBACHT:
Internetsuche nach „ganzheitlicher Kieferorthopädie“ findet nur
eine Minderheit an Könnern dieser besonderen Methoden, aber ein
Mehrfaches an Behandlern, die auch damit locken, sie aber auf
Frühbehandlungen, leichte Fälle oder zusätzliche Diagnostik
begrenzen und sonst feste Spangen bevorzugen. Teurere Bracket-Spangen
mit geringeren Kräften findet man als „ganzheitlich“ vermarktet,
und auch unter der Flagge „systemische Kieferorthopädie“ segeln
die einen und die anderen.
Mit dem Argument, Zähneziehen,
Gaumennahtsprengung und Außenspangen (Headgear, Delaire-Maske) zu
vermeiden, werden leider auch kleinere feste Spangen für Kinder im
frühen Wechselgebiss-Stadium (14-12 Milchzähne, 10 - 12 bleibende)
propagiert – bisweilen sogar, um diese Kariesfallen jahrelang
eingebaut zu lassen und dabei zur vollen Bracket-Spange weiter zu
bauen.
Dr.
George Bernard Crozat (1894 – 1966) praktizierte in New Orleans und
vertrat bereits die ganzheitliche Lehrmeinung, dass der Körper im
Prinzip weiß, wohin jeder Zahn gehört. Jedoch können Kieferenge,
Kreuzbisse, Zwangsführungen und Fehlfunktionen Zähne daran hindern,
ihre funktionsgerechten Positionen einzunehmen. Werden solche
Hindernisse abgearbeitet, genügen anschließend geringe
Punktkontakt-Kräfte, damit die Zähne ihre Plätze finden.
Ausgehend
von festen Zahnspangen der damaligen Edelmetall-Ära, bevor es
Plastik und Brackets und Kleber gab, wollte er die Behandlung auch
für Arzt und Patient erleichtern und entwarf für diese Apparaturen
Halteklammern zum Herausnehmen.
Da Funktionskieferorthopädie
damals allenfalls in Vorläufern existierte, übernahm Crozat für
Bisslage-Korrekturen ebenfalls das damals übliche Vorgehen und ließ
die Patienten zwischen ihren Apparaturen dann Gummibänder spannen.
HIER zu weiterer Info, Bildern und Behandlungsverläufen mit: Crozat-Geräten, Bionator, Bimler Gebissformer, konfektioniertem Trainer und weiteren.
gründet
sich in erster Linie auf Prof. Wilhelm Balters
(1893 – 1973), der als Fehlstellungs-Ursache vor allem kindliche
Mundatmung erkannte, die mit der Zeit ein typisches
„Mundatmer-Gebiss“ mit unterentwickeltem Oberkiefer nach sich
zieht. Aber auch Deckbisse, Rückbisse oder Vorbisse (Progenie) sah
Balters mit Charakter und Körperhaltung in Zusammenhang.
Um ein
Turngerät für den Mundraum zu schaffen, reduzierte er gegen 1950
die damals klobigen Aktivatoren zum Bionator,
der nicht übermäßig beim Sprechen hindern und im Mund beweglich
sein sollte. Dabei ersetzte er auch die Drahtelemente des Aktivators
durch einen Lippenbügel, der die Lippen führt und Wangendruck
abhält, und einen Zungenbügel, der die Zunge orientieren und
anregen soll, damit sie bei Bedarf den Oberkiefer nachentwickelt.
An
Begleittherapien, die das Gesundwachsen fördern sollen, sind neben
Physiotherapie hierbei Lymphdrainage und Magnetfeldtherapie
typisch.
An Bionator-Varianten
ersann Balters noch das Abschirmgerät gegen offenen Biss und das
Umkehrgerät mit umgekehrt orientierten Drahtanteilen gegen
Progenie.
Alle Varianten lassen sich mit Seitenschilden ergänzen,
um das Breitenwachstum der Kiefer zu fördern.
Da
es aber immer Spätfälle und hartnäckige Fehlstellungen gibt, bei
denen die Wirkung von Bionator und Begleittherapien für die
angezeigten Korrekturen nicht mehr ausreicht, integrierten die
deutschen Ganzheitlichen die Crozat-Geräte. Diese Methode war von
Crozats deutschem Mitarbeiter Wiebrecht erweitert und nach
Deutschland gebracht worden.
Bei kombinierten
Bionator-Crozat-Behandlungen werden diese Geräte in der Regel
nacheinander verwendet, von Könnern bei einzelnen Patienten aber
auch im Tag-Nacht-Wechsel oder zugleich.
erfüllt
ebenfalls die ganzheitliche Prämisse, die Korrektur durch die
Mundmuskelkräfte der Patienten anzutreiben.
Bimler-Geräte sind
graziler und tragezeit-freundlicher, aber auch fragiler als
Bionatoren. Sie erreichten nie deren Popularität, obwohl es sich
auch hier um ein komplettes System handelt (mehr dazu im
Funktionskieferorthopädie-Text).
Bimler publizierte seinerzeit regelmäßig, samt
Langzeitbeobachtungen und Belegen für die „funktionelle Matrix“,
die unser Kauorgan formt. Eine Theorie, die sich auch bei Fränkel
(Funktionsregler) und einigen anderen findet.
Diese Behandlungsmittel „von der Stange“, die wie ein doppelter Sportmundschutz aussehen, bestehen aus elastischem Material (ursprünglich aus Naturkautschuk). Ebenso wie die Gebissformer nach Bimler, aber unzerbrechlich, regen sie die Mundmuskel-Aktivitäten an und kommen durch ihren Massage-Effekt mit wenig täglicher Tragezeit aus. Ebenso sind sie auch zur „Selbstbehandlung unter Anleitung“ gedacht, z.B. der Funktionsharmonisator nach Schoch-Bellocq, der Kaukraft Kiefer-Former oder der Gummi-Aktivator nach Soulet-Besombes (alle französisch). Letzterer gehört zu einer Schule namens Dentosophie (siehe Linkliste für Aktuelles und Kurse), die an Begleittherapien die neurofunktionelle Reorganisation nach Padovan (Brasilien) favorisiert. Hierbei sollen Kinder und Erwachsene, deren Mundmuskelabläufe wie z.B. Schlucken sich nicht richtig entwickelt haben, erst einmal die frühkindlichen trainieren. In dem Sinne, dass diese erst einmal korrekt installiert sein müssen, damit sie korrekt deinstalliert und durch erwachsene Abläufe ersetzt werden können.
Konfektionierte
Trainer (Schienenaktivatoren) könnten als wirtschaftliche
Behandlungsmittel verbreiteter und
in mehr Größen und Typen gegen verschiedene Fehlstellungen
verfügbar sein, wenn vorbeugungsorientierte Behandlung besser
honoriert würde als Behandlungsmaximierung.
In Australien und
weiteren Ländern wurden sie von Dr. John Flutter in Verbindung
mit Atemtherapie als Teil des Myobrace-Systems
gelehrt. Auch in Holland findet ganzheitliche Kieferorthopädie mit
Trainern statt, weil diese dort nicht als Zahnspangen gelten, die
Allgemein-Zahnärzte im diesem dichtbesiedelten Land den
Fach-Kieferorthopäden überlassen müssen.
Allerdings ist mir ein
Trainer-Typ gegen unterentwickelten Oberkiefer bisher nur bei
französischen Fabrikaten bekannt.
Einige
Dental-Hersteller verkaufen Trainer in Einheitsform in 3 bis 4
Größen, oder noch einen Kompromiss-Typ gegen Progenie und gegen
Deckbiss (Fehlstellungen, bei denen funktionskieferorthopädische
Zahnspangen stets getrennte Typen vorsehen).
Mehr spielt sich mit
Trainern vermutlich jenseits der mächtigen Industrienationen in
Staaten oder Provinzen ab, die über eine gute Gesundheitversorgung
verfügen (Kuba, Vietnam; China? ...).
Ernstzunehmende Fabrikate
sollten mehr als 3 Größen aufweisen, aus unbedenklichen Materialien
bestehen, und Sondertypen für besondere Fehlstellungen sollten nicht
fehlen.
In
Frankreich war zeitweise noch eine weitere ganzheitliche Strömung
wahrnehmbar, die sich „orthodontie
écologique“ oder „orthodontie verte“
nannte. Sie setzte auf aktive Platten, die in Frankreich eher Planas
zugeschrieben werden (siehe Spanien).
Oder Kieferorthopäden, die
nicht mechaniklastig sind, laufen unter „fonctionaliste“,
sind aber ebenfalls nur regional vorhanden. So manche Eltern suchen
in Frankreich, Spanien oder Kanada vergeblich nach Alternativen zu
Brachialmethoden. Oder in Malaysia, Singapur, Südafrika (2004),
Guatemala (noch länger her), ...
dieses
Konzept, das in andere spanischsprachige Länder ausstrahlt, basiert
darauf, Beweglichkeit im Mundraum (wieder-)herzustellen. Dabei ist
Kieferorthopädie nur ein Bestandteil.
Charakteristisch an alten
Planas-Platten sind spärliche Halteklammern, die aus der Prothetik
entlehnt scheinen, und klobige Schraubelemente. Vorschubdoppelplatten
(„placas pistas“) wurden durch Konturen im Plastik
realisiert.
Zwar hat die Verteilung ganzheitlicher Behandler in
jedem Land Hochburgen und Leerräume, aber in Spanien scheinen es nur
noch wenige zu sein. Sowohl auf dem Festland als auch auf den Inseln
haben dort wohnende Deutsche bei ihrer mühsamen Suche
nach verträglicher Kinder-Kieferorthopädie keine
entdeckt.
Andererseits gibt es in Südamerika
Regionen, wo das Handwerk der aktiven Platten mit seinen geringen
Materialkosten noch lebt. Ähnliches mag für Russland, Polen,
Rumänien und andere ehemalige
Ostblockstaaten gelten, wo aber auch
Funktionskieferorthopädie oder Physiotherapie zur Bisskorrektur
traditionell vorkommen.
FGB = function
generating bite (Turiner Schule, vereinzelt
auch in Österreich). Denn dieses Blechgerät (anteilig)
vereint die 3 wichtigen praktischen Anforderungen:
-
tragezeitfreundlich (anders als der Bionator),
- grazil (anders
als konfektionierte Trainer),
- robust (anders als
Bimler-Geräte),
und stabile Ergebnisse wurden nachgewiesen.
Anders als die alten
Konstruktionen ist das FGB-Gerät leider nicht „open source“. Zur
optimalen Entfaltung seiner Dynamik braucht es außerdem ein
bestimmtes Zeitfenster des Zahnwechsels - obgleich es auch hier
Deckbiss-Geräte zur Behandlung im bleibenden Gebiss geben soll.
Zu
allem Überfluss wird es (als Plagiat?) von manchen Dozenten in einem
Therapiekonzept mit festen Spangen für Grundschulkinder (frühe
Wechselgebiss) vermengt.
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Cervera-Apparatur (Dank an A. B. Bimler, Wiesbaden) |
Turin-Gerät, gebraucht (Dank an Dr. Kuklinski www.dr-kuklinski.de und www.reguflex.de, München). |
Äußerlich
ähnelt das FGB-Gerät frappierend der alten Cervera-Apparatur, aber
die Passung auf den Gipsmodellen mag anders ausgelegt sein.
Die
Gestaltung und Wirkung des FGB- / Turin-Gerätes wurde quantifiziert.
Der frontale Blechanteil hier und die Schubfedern darüber gehören
nicht zur Grundausstattung. Auch die Formgebung des äußeren
Drahtelementes ist hierbei variabel, und es gibt z.B.
Progenie-Varianten.
Ob das Turin-Gerät DAS ganzheitliche Gerät
in Italien ist, sei dahingestellt. Und ob italienische Ganzheitliche
für Zahnkorrekturen Brackets, Aligner, Positioner oder klassische
Herausnehmbare anwenden, mag regional verschieden sein. Darauf, dass
„abgelegene“ Gegenden für kieferorthopädischen Profit
unattraktiv wirken, habe ich zumindest für Deutschland, Schweiz und
Frankreich Hinweise.
Aus den auch dort schwindenden, eingangs genannten Crozat-Geräten wurden ALF-Geräte (applied light force) für Kinder und Erwachsene entwickelt, mit ähnlichen Halteklammern und reduziertem Drahtkörper. Dadurch elastischer, geben dünnere Drähte mit kleeblättrigen Schlaufen minimalen Druck. Vorkommen: primär USA, Kanada, England, für aktuelle Angaben siehe Linkliste (evtl. mit interessantem Sortiment von konfektionierten Trainingsmitteln, selbst gegen offenen Biss).
Anwendungen von individuellen aktiven Platten gibt es dort sehr vereinzelt als „integrative orthodontics“. Öfter findet man voreingestellte aktive Platten angeboten, primär für Erwachsene und mit ästhetischem Ansinnen.
Ursprünglich
aus England, wo
seitens der Krankenversicherungen schwierige Bedingungen herrschen,
stammt www.orthotropics.com
(primär USA,
Kanada, Australien, Neuseeland, Großbritannien) von
Prof. John R.
C. Mew. Schäden durch kieferorthopädisch veranlasstes Zähneziehen
(der ausführende Allgemeinzahnarzt ist mit verantwortlich!) werden
dort minutiös aufgezählt.
Als zentrale Ursache für
Gebissfehlstellungen gilt hier vertikales Gesichtswachstum. Das oft
mit Mundatmung zusammen auftritt (Balters, siehe oben), aber nicht
muss. Bei Bimler und anderen wurde das Langgesicht „dolichofazial“
genannt und toleriert, nur dass Gebisskorrekturen dann meist länger
brauchen.
Gern wird die Orthotropics-Behandlung
mit einer ruppigen Dehnplatte begonnen. Dann folgt als zentrales
Behandlungsmittel der Biobloc,
ein vierbeinig wirkender, reduzierter Aktivator, der den Unterkiefer
muskulär vorverlagert. Für umgekehrt zur Progeniebehandlung gibt es
hiervon keine Variante.
nach
Dr. Joseph Da Cruz
http://www.wholisticdentistry.com.au/soma-info.html
eine
einphasige ganzheitliche Behandlung.
Es ist aus flexiblem Material für den Oberkiefer, wird für den
Unterkiefer ggf. um gut gebaute aktive Platten ergänzt, und wird
auch in Neuseeland, England, Hong Kong und den USA vertrieben.
Das
SOMA-Standardgerät (Typ 1) nutzt die relativ moderne
3-Wege-Schraube, aber höher gaumenwärts, damit am Zungenpunkt eine
Aussparung gelassen werden kann. Seitliche Aufbisse sind nicht glatt,
sondern auf eine Führung des Unterkiefers geprägt. Ein umlaufender
Draht ist so ausgestaltet, dass die Frontzähne eingereiht werden
können.
Engstände samt Eckzahn-Hochstand oder Spitzfront wurden
ebenso erfolgreich behandelt wie Deckbiss oder Tiefbiss (schon im
bleibenden Gebiss). Zur Progenie-(Früh-)Behandlung gibt es eine
entsprechende Variante, und vermutlich auch für Patienten mit
omega-förmigem Zahnbogen - oder werden sie mit einer Dehnplatte oder
nichtapparativ vorbehandelt?
wo diese als hartnäckig verrufene Bissanomalie häufig ist: die wirtschaftliche Methode nach Satravaha, deren Erfolge gut dokumentiert sind, basiert auf den beiden Säulen Physiotherapie (myofunktionelles Training, MFT) nach D. Garliner (1970) und einem robusten, unkomplizierten Progenie-Aktivator ohne Spezialteile, der Teilzeit zu tragen ist. Er hat die Lippenschilde vom Funktionsregler 3 nach Fränkel, eine obere Dehnschraube, aber keinen verstellbaren Vorschub. Schwerer betroffene Patienten erhalten im Behandlungsverlauf einfach einen weiter korrigierten zweiten oder dritten davon.
Ergänzungen sind willkommen, besonders Hinweise auf weitere ganzheitliche Schulen, ganzheitliche herausnehmbare Zahnspangen und deren Verbreitungsgebiete.