Von der Chemie zur Kieferorthopädie:
Mutmachender Quereinstieg im Dienst der Aufklärung
Interview mit Dr. rer. nat. Larissa Dloczik (Autorin dieser Website)
Die Fragen stellte Dr. phil. Simone Meller am 14.05.2022
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Hallo Larissa, ich freue mich auf dieses Gespräch. Du bist promovierte Chemikerin und bezeichnest dich als Wissenschaftlerin ohne Scheuklappen. Darunter verstehe ich einen prinzipiell aufgeschlossenen Menschen, der auch über seinen Tellerrand hinaus Freude am logischen Denken hat und sich in seinen Erkenntnissen nicht so leicht einschüchtern lässt, auch wenn er vielleicht zu Schlüssen gelangen sollte, die mit vorherrschenden Lehrmeinungen kollidieren. Bei dir kommt noch der Quereinstieg in eine auf den ersten Blick fremde Materie dazu: Wie weit ist der Weg von der Chemie in die Kieferorthopädie?
Hallo
Simone. Zur Chemie kam ich, weil es am Gymnasium mein Lieblingsfach
war. Damals in den Techno-90ern, nach den Öko-80ern, hat man noch an
die Zukunft geglaubt. Was mir Motivation für ein samt Promotion doch
langes Studium gab. Aber nie wollte ich mich dann für einen
Chemie-Konzern verdingen. Diplomiert habe ich in biophysikalischer
und promoviert in anorganischer Chemie. Derweil interessierten mich
chemische Solarzellen, vor allem mit Elektrolyt gefüllte
Sensibilisator-Solarzellen.
Mit meiner ersten Stelle kam ich
per Initiativ-Bewerbung dann genau in diesen Bereich. Jedoch gehört
auch in der Forschung Klappern zum Handwerk: ich meine, wer nüchterne
Einschätzungen liefert, kriegt kein Forschungs- oder
Investoren-Geld. Und welch konträre Anforderungen einige der nötigen
Materialien erfüllen mussten, hatte sich niemand so recht klar
gemacht... Auf meiner zweiten Stelle war ich dann in Berlin noch mehr
mit Physikern zusammen. Aber auch hier wurde
die Luft dünner, wenn man älter wird.
Zahnspangen
und Kieferorthopädie hatten mich durch eigene Erfahrung und im
Umfeld auch schon früher interessiert. Besonders um
Funktions-Kieferorthopädie zu verstehen, die mit körpereigenen
Kräften und mit dem Wachstum arbeitet, hat eigenes Erleben geholfen.
Mit eigenem Internet begann ich zu recherchieren, aber auch in einer
Zahnklinik-Bibliothek, sogar alte Schriften von Pionieren. Klar wurde
zudem in politischer Hinsicht, dass das Gesundheitssystem hier und
heute nicht wie ein freier Markt, sondern hochgradig lobbykratisch
funktioniert. Wofür Kieferorthopädie ein Musterbeispiel ist. Aber
auch jede 2. Operation hier ist überflüssig. Dennoch sind viele
Patienten und Eltern zu autoritätsgläubig und zu wenig in der Lage,
Risiken gegeneinander abzuwägen.
Nach einigen Reibereien
in Zahnspangen-Foren ging dann Anfang 2002 der Vorläufer meiner
Aufklärungs-Webseite ans Netz, mit einem kostenlosen Hobby-Hosting
bei GMX und einem Staroffice-Handbuch mit Kapitel über
Webseiten-Bau.
Für meine praktische Arbeit habe ich mir den Spaß am Experimentieren erhalten, und Chemie-Kenntnisse helfen, dass Materialien richtig funktionieren.
Ich
erinnere mich auch noch, wie das war, als das Internet zu mir nach
Hause kam. Wir sind ja noch ohne aufgewachsen. Es ist
hochinteressant, was du dort und auch in der Bibliothek der
Zahnklinik gefunden hast! Ich habe schon sehr viele Zahnspangen
gesehen und auch einige getragen. Aber auf deiner Aufklärungs-Website
sind Varianten abgebildet und beschrieben, die ich noch nie gesehen
habe. War es schwierig, diese Vielfalt zusammenzustellen oder hat die
theoretisch jeder Kieferorthopäde in der Schublade und sucht sich
dann für das Patientengespräch nur die passenden heraus? Anders:
Welche Fragen müsste man einem Kieferorthopäden stellen, um eine
größere Auswahl zu erhalten?
Anfangs hatte ich Bilder aus alten Lehrbüchern und Fachartikeln, die vorher nicht ins Internet gelangt sind. Weiteres Bildmaterial alter Zahnspangen stammt von Sammlern, z.B. Objekte aus Praxis-Auflösungen. Durch Kontakte zu KFO-Labors trugen diese dann aktuellere Bilder zu meinen Galerien und Fallbeispielen bei. Das wurde eine Ansammlung, die kein Kieferorthopädie parat hat. Schon eine gute Auswahl daraus wäre viel wert.
Ob
eine Methode gut ist, steht und fällt aber auch damit, ob der Arzt
sie beherrscht. So sagte mir einer jener Zahnspangen-Techniker, dass
Zahnärzte, die Kieferorthopädie in der DDR gelernt hatten, mit von
ihm gebauten herausnehmbaren Spangen noch Korrekturen vollbringen,
über die ihre West-Kollegen nur staunen. In der Hochschul-Ausbildung
und Fortbildung wurden die Details der Handhabung herausnehmbarer
Spangen seitdem von denen fester Spangen verdrängt. Wobei Hersteller
jene Verfahren propagieren, für die sie am meisten Teile verkaufen
können, und die dem Arzt mit dem Patienten Stuhlzeit einsparen.
Wie jedoch z.B. ein Funktionsregler nach Fränkel wirkt,
das erschließt sich dem Laien durch Anschauung nicht. Dazu hatte ich
mir ein Lehrbuch geliehen, und darin fiel mir auch auf, wie viele
Funktionsregler-Patienten später ihre Weisheitszähne hatten. Leider
verstehen lautstarke Kritiker der Funktions-Kieferorthopädie oft gar
nicht richtig, was sie da madig machen. Und zu den guten
Behandlungs-Ergebnissen namhafter ganzheitlicher Kieferothopäden
trägt bei, dass Patienten, die zu ihnen anreisen,
überdurchschnittlich motiviert sein mögen.
Also muss man sich für eine ansprechende Zahnspangen-Auswahl schon im Vorfeld Anbieter heraussuchen, die passen könnten. Das ist oft Detektivarbeit und zwischen-den-Zeilen-lesen. Vorsicht z.B., wenn eine KFO-Praxis ihre „modernen Methoden“ hervorhebt! Meine Positivliste, die in ständiger Umwälzung ist, enthält mehrheitlich Zahnärzte mit Kieferorthopädie-Sparte, und weniger Fach-Kieferorthopäden.
Dann
hast du ja mit deiner sukzessiven Sammlung eine echte Fleißarbeit
geleistet. Mit deiner Empfehlung zur Wachsamkeit, wenn mit "modernen
Methoden" geworben wird, beziehst du dich auf den dominierenden
Trend zu festen Zahnspangen, richtig?
„Moderne“ feste Spangen sind nicht nur die bekannten silbernen oder weißen, im Vergleich zu früher kleiner gewordenen Bracket-Spangen. In den 00er Jahren wurden die mit Druck auf die Eltern fast allen Kindern, die nicht bei Drei auf dem Baum waren, eingebaut. Dies hat sich heute durch vermehrte Erwachsenen-Behandlung und Verbreitung von Alignern (Korrekturschienen) zwar etwas entspannt. Hingegen sind feste Spangen nun auch in die Frühbehandlung eingezogen, also im ersten Stadium des Zahnwechsels, wenn seitlich noch 12 Milchzähne stehen. Eine brutale Methode ist dabei die Gaumennahtsprengung, die - oft mit beschönigender Bezeichnung – Kindern droht, die durch zu schmalen Oberkiefer einen seitlichen Kreuzbiss haben. Einst war sie eine Spätfall-Methode, ist jedoch profitabler, als das Behandlungsziel allein mit einer aktiven Platte (herausnehmbar) zu erreichen, die im Grundschul-Alter schnell wirkt und meist auch gerne getragen wird.
Oder bei der auffälligeren, seltenen Vorbiss-Fehlstellung wurde Funktionskieferorthopädie mit zumeist Doppelkiefer-Spangen, die langsam, aber nachhaltig wirken, von (keineswegs neuen) Außenspangen verdrängt. Die liefern schnelle, aber instabile Ergebnisse: gut zum Abrechnen, schlecht für den Patienten.
Besonders gefährlich ist es, Schrauben direkt in den Knochen zu drehen! Diese Komponenten werden verharmlosend Mini-Pins, Pin-Verankerung o.ä. genannt. Sie kamen Ende der 00er Jahre auf, um daran Gaumen-Apparaturen fest zu verankern (statt an den Zähnen), oder um Bracket-Spangen stabiler gegen ungewollte Zahnbewegungen abzustützen. Beides wäre vollkommen überflüssig, wenn es noch Expertise mit gut gebauten herausnehmbaren Spangen gäbe, denn diese bieten stets eine stabile Basis.
Daher ist in der Tat Eigeninitiative gefragt, und sie lohnt sich! Findet man Ursachen, ergibt sich auch Vorbeugung, denn 80% der Fehlstellungen sind erworben, also auch eine Zivilisationskrankheit.
Danke
für die Erläuterung. Ich würde gerne nochmal die Frage aufgreifen,
wie man einen Behandler mit größerer Zahnspangenauswahl findet. Du
hast vorhin empfohlen, im Vorfeld sorgsam den passenden Behandler
aufzuspüren. Allerdings stelle ich mir das für viele Eltern
schwierig vor! Das setzt ja Kenntnis in den sogenannten Bissanomalien
voraus und welche konventionellen und/oder modernen
Behandlungsschritte dafür notwendig sind. Oder wenden sich Eltern
manchmal bereits an dich, bevor sie eine erste kieferorthopädische
Meinung einholen? Informierst du auch über Patientenrechte?
Manche Eltern stoßen tatsächlich schon frühzeitig auf mich.
Eine Übersicht von Bissanomalien sah ich zufällig in einem polnischen Naturmedizin-Buch, samt einiger Übungen dagegen. Und ein Polen-Kenner schrieb, polnische Kinder würden in der Schule sehr viel über ihre Zähne lernen. In hiesigen Gesundheits-Büchern folgen auf diese Information dagegen oft Bracket-Spangen.
Patientenrechte
sind zuvordest das Recht, weitere Meinungen im Vorfeld einzuholen!
Wobei man bei blinder Suche leider auch mehrfach an den Falschen
geraten kann.
Aber hat eine kieferorthopädische Behandlung
mutmaßlich einen Schaden verursacht, dann steht der Patient
rechtlich im Regen, sofern es normales Behandlungsrisiko war. Ob es
weniger riskante Methoden gibt, sollte man daher lieber vorher
erforschen.
Das
mit den Übungen in dem polnischen Lehrbuch klingt spannend! Wäre
bestimmt für viele interessant, wenn du eine Kostprobe mit
Quellenangabe auf deiner Website vorstellen würdest! Du hast vorhin
gesagt, dass dir "Spaß am Experimentieren" und
"Chemie-Kenntnisse" bei der praktischen Arbeit helfen.
Heißt das, du arbeitest auch technisch, indem du einige Apparaturen
selbst anfertigst? Welche sind das? Und von welchen lässt du als
Quereinsteigerin die Finger?
In
jenem alten Buch blätterte ich bei Privatleuten auf einer Reise,
2004 war das. Verschiedene Fehlstellungen zeigen auch die Webseiten
einiger Kieferorthopäden, die informieren wollen, wann man sie
aufsuchen sollte. Ob sie angemessene Methoden haben, steht auf einem
anderen Blatt. Was Laien tun können, um Fehlstellungen entgegen zu
wirken, ist zunächst Stillen, denn dabei bringt das Baby den
Unterkiefer vor. Schnuller sollten nur kurzzeitig gegeben werden.
Sodann ist die richtige Lage und Funktion der Zunge für die
Entwicklung des Oberkiefers wichtig, und sie erfordert, durch die
Nase zu atmen. Als kleines Trainings-Mittel ist für Kinder die
Mundvorhofplatte erhältlich, die wie ein Schnuller ohne Sauger
aussieht. Sind genug Zähne da, dann sollte es schmackhafte harte
Nahrung gaben, als Anreiz für die Kiefer, zu wachsen. Weiterhin kann
Physiotherapie, Osteopathie oder Logopädie gegen
Kiefer-Fehlentwicklungen wirken. Ganzheitliche verordnen manchmal
auch Lymphdrainage. Zur Selbsthilfe eignen sich auch die Kaukraft
Kiefer-Former von meinem eigenen Werk-Tisch, auch in Größen für
Jugendliche und Erwachsene. Dafür habe ich Gipsformen erzeugt, die
ich mit Dental-Silikon fülle. Digitalisieren und 3-D-Drucken dieser
Formen wäre ein Vorteil, um Zwischengrößen oder Varianten
herstellen, aber das Einscannen ist bei dieser Form schwierig.
Das
starre Plastik für klassische herausnehmbare Spangen und
Retentionsgeräte, bekannter als Plexiglas, ist heute auch leichter
zu verarbeiten. Spezial-Zangen für den Draht und ein Dremel
komplettieren mein Werkzeug. Nicht ausgestattet bin ich zum Löten
oder Schweißen von dentalen Metallen, oder zum Tiefziehen von
Thermoplasten, wie z.B. für Knirscherschienen üblich.
Ahaaa...
nun haben wir eine konkrete Idee davon bekommen, wie dir deine
Kenntnisse als Chemikerin am Werktisch helfen! Zusätzlich ist mir im
Laufe dieses Interviews auch aufgefallen, dass die Bereitschaft, dich
in eine fremde Materie wie die Kieferorthopädie einzufuchsen sowie
die verschiedenen Methoden mit einem kritischen Bewusstsein
nachzuvollziehen und zu vergleichen, eine fachübergreifende Qualität
ist! Da kommt dir auch eine Modellfunktion im Sinne einer mündigen
und sich selbst informierenden Person zu. Deine Website kann als
Beitrag zum Empowerment für Patienten verstanden werden. Vielleicht
macht das den Menschen, die zu dir finden, auch Mut? Denn im Prinzip
kann jeder diese Kraft entwickeln: Egal ob es sich dabei um Zähne
oder ein anderes Gesundheitsthema handelt. Zum Schluss für heute:
Gibt es etwas, wonach ich nicht gefragt habe, was du aber gerne noch
loswerden möchtest?
Zur
Geschichte
der Zahnspangen ist noch zu sagen, dass die Bauformen auch
dadurch bedingt waren, wann welche Materialien erfunden wurden:
Gummi, Edelstahl, Plastik, Silikon, spezielle Legierungen…
Zeitweise wurde die funktionelle Stabilität der
Behandlungsergebnisse mehr beachtet. Man behandelte dabei
nachhaltiger: form follows function. Die stattdessen weite
Verbreitung festgeklebter Retainer-Drähte in den letzten Jahren
spricht hier für sich!
Empowerment, in etwa als
Ermächtigung übersetzt, ist wichtig! Ich habe schon vielen
Ratsuchenden geholfen, sich von KFO-Ärzten zu emanzipieren, die
nicht unbedingt den Dollar- bzw. Euro-Blick haben, aber vielleicht
betriebsblind sind und die Risiken und Bürden ihres täglichen
Feste-Spangen-Tuns herunterspielen oder selber nicht richtig
wahrnehmen. Eher haben sie davon, rein mit herausnehmbaren Spangen zu
behandeln, eine schlechte Meinung, zur der Hersteller-Vertreter
beigetragen haben mögen.
Die vielbeschworene evidenzbasierte
Medizin haut auch in diese Kerbe und hat etliche Kassen-Gutachter
eingefärbt, die dann Behandlungspläne abwürgen. Verständlich
wollen Krankenkassen nichts bezahlen, dessen Wirksamkeit nicht
erwiesen ist, oder deutlich unter 100% liegt. Aber hochwirksame
Medikamente oder Methoden haben meist mehr Risiken und Nebenwirkungen
als schonendere (von echten Innovationen z.B. in der Laser-Medizin
mal abgesehen). Dies wird nicht genug abgewogen, weil der
Medizinbetrieb, anders als z.B. ein Verkehrsbetrieb oder Hersteller
von Konsumgütern, nicht für die Sicherheit haftet: Patienten sind
weniger geschützt als Passagiere oder Nutzer.
Empowerment
hilft auch gegen andere Zivilisationskrankheiten. Unser Körper hat
einige Schwachstellen, die leicht verkümmern, wie z.B. auch die
Muskulatur der Augen. In der Evolution mussten sie sich immer wieder
auf die Ferne scharf stellen. Entfällt dies, wird Fehlsichtigkeit in
den meisten Fällen erworben. Rechtzeitige Ausgleichsübungen und
Aufbautraining könnten dem entgegenwirken.